Schwerin (nordPR) – Der heutige Montag ist, wenn auch im Schatten von Corona, für die Schweriner Fritz-Reuter-Bühne ein durchaus besonderer Tag.
Denn die erste Spielzeit der Niederdeutschen Bühne am Mecklenburgischen Staatstheater beginnt am 29. November 1926. Es ist der Montag nach dem ersten Advent und als erstes Stück wird die Komödie „Stratenmusik“ von Paul Schurek gegeben. Die Regie hat Richard Spethmann. Der Schauspieler und Sänger stammt aus Altona bei Hamburg und ist über Schleswig, Wismar und Neustrelitz nach Schwerin gekommen.
Theater op Platt in den 20ern beliebt
Theater op Platt ist in den 20er-Jahren schwer in Mode. Bereits 1902 hatte Richard Ohnsorg in Hamburg seine Dramatische Gesellschaft gegründet, aus der 1920 die Niederdeutsche Bühne Hamburg hervorgeht. In jenem Jahr bekommt auch Rostock eine Niederdeutsche Bühne, Stralsund eine Plattdütsch Späldal und hoch im Norden schließt sich die Flensburger Speeldeel zusammen.
Ebenfalls 1920 debütiert Richard Spethmann mit einer plattdeutschen Inszenierung in Schwerin. Sechs Jahre und 14 Produktionen später wird die Niederdeutsche Bühne unter seiner Leitung am Mecklenburgischen Staatstheater fest etabliert. In Schwerin spielt also – anders als sonst in Norddeutschland – von Anfang an ein Profi-Ensemble plattdeutsches Theater. Bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler werden hier im Lauf der Jahre engagiert: Marga Heiden, Maria Besendahl, Anke Neumann, Gerd Micheel, Fritz Hollenbeck, Horst Dethloff, Rudolf Korf, Eberhard Bremer oder Kurt Nolze.
Erfolg mit leichter Unterhaltung in der NS-Zeit
Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 hat die Niederdeutsche Bühne mit Besucherschwund und Geldmangel zu kämpfen. Das Ensemble sucht sein Publikum zunehmend bei Abstechern in Kleinstädte und Dörfer und spielt Komödien. So auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Bühne vor allem unterhaltsame Erfolgsstücke bringt wie „De Etappenhaas“ von Karl Bunje oder die „Swienskomödi“ von August Hinrichs. Eine vorerst letzte Vorstellung gibt es am 12. März 1945. Ein halbes Jahr, nachdem Goebbels die Schließung der Theater befohlen hat, wird in Schwerin noch einmal das plattdeutsche Märchen „De gollen Kutsch“ gespielt.
Propaganda gegen Niederdeutsch in der DDR
Den Namen Fritz-Reuter-Bühne erhält das Ensemble 1946 – im 20. Jahr seines Bestehens – von der Regierung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Damals gerät die Bühne in eine ernsthafte Krise. Die meisten plattdeutschen Stücke kann sie nicht spielen, weil Verlage im Westen die Rechte innehaben und Tantiemen daher in Westgeld bezahlt werden müssten. Langsam wirkt auch die Propaganda gegen die niederdeutsche Sprache, die den Machthabern in der DDR als überholt und antiquiert gilt.
1962 existiert die Fritz-Reuter-Bühne nur noch dem Namen nach. Der damalige Generalintendant Martin Hellberg betrachtet das Ensemble als Teil des Schauspiels am Mecklenburgischen Staatstheater. Immer häufiger werden Mitglieder der Fritz-Reuter-Bühne bei den großen hochdeutschen Inszenierungen des Hauses eingesetzt. Ein ordentlicher Spielplan und regelmäßige Abstecher in die Provinz werden so fast unmöglich.
Renaissance unter Rudolf Korf
Ab 1963 kümmert sich Rudolf Korf um Gastspiele für die Fritz-Reuter-Bühne, und bald wird die Truppe nicht nur in dörfliche Kulturhäuser, sondern immer häufiger auch in größere Theater im ganzen Norden der DDR eingeladen. Die Bühne wird überregional bekannt.
1968 greift Rudolf Korf, der Schauspieler und spätere Direktor der Fritz-Reuter-Bühne, wieder zur Selbsthilfe und schreibt mit „Ãœmmer Arger mit den Döst“ ein neues Stück für sein Ensemble, viele weitere sollen folgen. Regelmäßig dramatisiert die Bühne auch Werke ihres berühmten Namenspatrons Fritz Reuter und setzte darüber hinaus auf Unterhaltung. Oft werden niederdeutsche Fassungen der Komödien Rudi Strahls gebracht – der damals meistgespielte Theater-Autor der DDR.
Der Weg der Fritz-Reuter-Bühne ins West-Fernsehen
Ein besonders kurioses Kapitel deutsch-deutscher Fernsehgeschichte ist, wie die Fritz-Reuter-Bühne dann auch im Westen bekannt wird. Der NDR will neben den Aufzeichnungen aus dem Hamburger Ohnsorg-Theater 1978 auch Stücke der Fritz-Reuter-Bühne zeigen. Der Rat des Bezirks Schwerin steht dem Vorhaben äußerst ablehnend gegenüber. Genehmigt wird das Projekt erst nach stiller Diplomatie: Die Ehefrau des Schauspielers Manfred Brümmer kann als Früh-Rentnerin in den Westen nach Hamburg reisen. Beim Pförtner des NDR fragt sie nach einem Termin beim Fernsehen – und bekommt ihn noch am gleichen Tag. Mit Hans Brecht, dem Leiter der Redaktion Film und Theater, spricht sie über die Schwierigkeiten mit der Schweriner Bezirksleitung und regt an, gleich Kontakt mit den zuständigen Stellen in Ostberlin aufzunehmen. Und tatsächlich: Ein Jahr später zeichnet das Fernsehen der DDR mit „Vadder hett ne Fründin“ eine erste plattdeutsche Inszenierung auf. Nach der Ausstrahlung im Zweiten Programm des DDR-Fernsehens kann der NDR das Stück nun übernehmen. Und auch mit zwei weiteren Inszenierungen der Fritz-Reuter-Bühne werden später Devisen für die DDR eingespielt.
Überlebenskampf der Reuter-Bühne nach dem Mauerfall
Nach dem Mauerfall und der Wende muss die Bühne erneut um ihr Publikum kämpfen. Ein geflügeltes Wort aus jener Zeit lautet: „Die Trabis rollen überall hin, nur nicht vor’s Theater“. Kulturhäuser in Mecklenburg-Vorpommern werden geschlossen, in vielen Gasthaus-Sälen kommen ebenfalls keine Theater-Vorstellungen mehr zustande. Doch für Gastspiele steht nun auch der Westen offen. So ist das Ensemble seit 1990 in ganz Norddeutschland unterwegs. 2008 geht die Fritz-Reuter-Bühne mit dem Musical nach dem gleichnamigen Film „Große Freiheit Nr. 7“ zum ersten Mal sogar auf ganz große Tournee durch Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Doppelte Staatsbürgerschaft: Aktuelle Themen op Platt
Für bundesweites Aufsehen sorgt das Ensemble 1999 mit einer Inszenierung aktuellen Stoffs op Platt. Zur Diskussion über den Doppelpass, die doppelte Staatsbürgerschaft also, hat das Ensemble das passende Stück: „De unheimliche Swiegersöhn“. Eine Studentin aus Mecklenburg stellt den Eltern darin ihren Freund und zukünftigen Ehemann vor – der aus Afrika kommt. In der Hauptrolle überzeugt der Nigerianer Jubril Sulaimon mit perfektem Plattdeutsch. Ein großer Bühnenerfolg, über den viele Medien und sogar das Afrika-Programm der Deutschen Welle berichten.
Zukunftsängste in Mecklenburg-Vorpommerns Theater-Krise
Erneut um ihre Zukunft bangen muss die Fritz-Reuter-Bühne, als in den 1990er-Jahren die Theater-Landschaft in Mecklenburg-Vorpommern neu geordnet werden soll. Ein Plan sieht vor, die Schauspiel-Truppe aus dem Mecklenburgischen Staatstheater herauszulösen und als Ensemble am Ernst-Barlach-Theater in Güstrow zu etablieren. Diese Lösung erweist sich allerdings als sehr teuer – und so bleibt die Bühne am Staatstheater in Schwerin.
Seither hat sie unter ihrem Direktor Rolf Petersen ein großes Abstecher-Netz in Mecklenburg-Vorpommern und darüber hinaus aufgebaut. Die Fritz-Reuter-Bühne bringt modernes plattdeutsches Theater und bewährte Klassiker, die zu DDR-Zeiten nicht aufgeführt werden konnten. Regelmäßig spielt das Ensemble auch für Kinder op Platt und setzt sich damit für den Erhalt der niederdeutschen Sprache ein.
Fruchtbare Zusammenarbeit mit dem NDR
Im Lauf der Jahrzehnte entwickelt sich eine fruchtbare Zusammenarbeit der Fritz-Reuter-Bühne mit dem Norddeutschen Rundfunk. Ab 1990 zeigt das NDR Fernsehen in der Reihe „Wi speelt op Platt“ einige Schweriner Inszenierungen. Auch der Silvester-Klassiker „Dinner for one“, der in seiner Plattdeutsch-Version in der Spielzeit 1994/95 Premiere gefeiert hat, wird 1999 vom NDR Fernsehen aufgezeichnet. Aus Miss Sophie und ihrem Butler James sind Frollein Soffie und ihr Diener Franz geworden – und sie gehören längst es zum Jahreswechsel wie Sekt und Berliner.
Ein anderer Klassiker feiert 2005 Premiere bei der Fritz-Reuter-Bühne: „Dat Späl von Dokter Faust“. Goethes Drama op Platt ist die bis dato aufwendigste und anspruchsvollste Produktion des Ensembles. Aus der Inszenierung entsteht mit den gleichen Schauspielern zwei Jahre später in einem NDR Studio ein Hörspiel, das im 90. Jubiläumsjahr des Theaters 2016 auch als Hörbuch veröffentlicht wird.
Große Fernseh-Doku zum 200. Geburtstag von Fritz Reuter
„Fritz Reuter – armer Rebell, reicher Poet“: Im Reuter-Jahr 2010 anlässlich seines 200. Geburtstags zeichnet eine Fernseh-Dokumentation des NDR das Leben des großen niederdeutschen Dichters aus Mecklenburg nach. Eine wichtige Rolle in diesem Film spielt die Fritz-Reuter-Bühne, die bei Proben zum Geburtstagsprogramm für ihren Namenspatron zu sehen ist.
CDs von NDR 1 Radio MV und der Fritz-Reuter-Bühne
Darüber hinaus gibt NDR 1 Radio MV eine Reihe von CDs mit Schauspielern der Fritz-Reuter-Bühne heraus, unter anderem:
- „De Urgeschicht von Meckelnborg“ (2002), mit Gerd Micheel
- „Ut mine Stromtid“ (2010), von Fritz Reuter
- „Alle Handen ahoy“ (2004), plattdeutsches Seemannsgarn von John Brinckman (2004)
- „Dor kümmt doch ümmer wat dormang“ (2003), Eberhard Bremer und Marga Heiden tragen die besten Burrkäwers von Rudolf Tarnow vor
- „Abendteuer des Entspekter Bräsig“ (2006), von Fritz Reuter, gesprochen von Kurt Nolze
- „Hell ward dat in uns Stuben“ (2011), Weihnachts-CD°
„Dat Späl von Dokter Faust“ (2016), Hörspielproduktion auf CD
Theater-Fusion bringt Sicherheit für die nächsten Jahre
In der 85. Spielzeit im Jahr 2011 kündigt sich eine weitere Krise an. Für das Ensemble sollen buchstäblich die Lichter ausgehen: Mitten in der Vorweihnachtszeit schlägt der Aufsichtsrat des Mecklenburgischen Staatstheaters vor, die einzige niederdeutsche Berufsbühne im Nordosten zu schließen. Es gibt viel Protest in jenen Tagen und Solidaritätsbekundungen. Später stellt sich heraus: Generalintendant Joachim Kümmritz hatte die Fritz-Reuter-Bühne nicht wirklich opfern wollen, er wollte die Politik wachrütteln und auf die prekäre Lage der Theater im Land hinweisen.
Unter anderem diese prekäre Lage mündet 2016 schließlich in der Neuordnung der Theater-Landschaft in Mecklenburg-Vorpommern. Das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin und das Mecklenburgische Landestheater Parchim fusionieren, das Land steigt als Mehrheitsgesellschafter ein. Die Bühnen arbeiten seitdem zusammen, haben im Gegenzug relative Planungssicherheit – und die Fritz-Reuter-Bühne kann außer am Standort Schwerin nach wie vor bei Gastspielen in Norddeutschland glänzen.
Corona bremst auch Fritz-Reuter-Bühne aus
Die nächste Krise lässt allerdings nicht lange auf sich warten: Wie auch alle anderen Spielstätten im Norden muss die Fritz-Reuter-Bühne im Zuge der Corona-Krise im Frühjahr 2020 die Vorstellungen einstellen. Das Ensemble nutzt die Zeit, „Kein Hüsung“ von Fritz Reuter auf Basis einer Inszenierung aus der Spielzeit 2016/2017 aufwendig als Hörspiel zu produzieren – es soll unter anderem im Plattdeutsch-Unterricht verwendet werden und ist auf der Website des Landesheimatverbandes zu hören. Im Sommer dann kann die Fritz-Reuter-Bühne ihrem Publikum wieder von Angesicht zu Angesicht zeigen, was es kann – wenn auch auf Abstand: Unter dem Motto „Geiht wedder los“ zeigt das Ensemble am traditionellen Sommerspielort Freilichtmuseum Schwerin-Mueß ein gut einstündiges Programm im Freien. Mittlerweile spielt auch die Fritz-Reuter-Bühne wieder regulär – die Spielzeit 2021/2022 bestreitet sie unter anderem mit mit „Misery – Schriew üm dien Läben“ nach Steven King.
Zu wünschen wäre, dass der abermalige Aufbruch in eine gute Zukunft führt. Denn es gibt nur zwei plattdeutsche Profi-Ensembles in Deutschland: das Ohnsorg-Theater in Hamburg und die Fritz-Reuter-Bühne in Mecklenburg-Vorpommern.
(nach einem Text von Rainer Schobeß)
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